384 offene CAPAs - ineffiziente Prozesse oder eine Chance?
384 offene CAPAs - ineffiziente Prozesse oder eine Chance?
"384 offene CAPAs*" könnte die Antwort sein auf die Frage: Wie viele offene CAPAs haben wir denn zurzeit?
Betretenes Schweigen.
„…und das Audit ist kommende Woche Donnerstag“ murmelt jemand, der es wissen muss.
Was wäre, wenn wir CAPAs nicht als lästige Pflicht, sondern als Chance zur kontinuierlichen Verbesserung betrachten würden? Ein agiler Ansatz bewirkt genau das - die Anforderungen der ICH Q10 Guideline werden dabei erfüllt.
Agiles CAPA- Management bietet nicht nur eine Lösung für die oft unklare Abgrenzung zwischen Tages- und Projektgeschäft im CAPA-Prozess, sondern fördert auch die kontinuierliche Verbesserung und Effizienzsteigerung.
Krisenbewältigung durch Task Forces: Ein Muster ohne Wert?
Wenn man nicht weiterweiß, bildet man – genau – ein neues Team, ein Krisenkomitee oder initiiert eine Task Force. Jedes Jahr aufs Neue. Die Gründe hierfür sind vielfältig: Das Produkt ist in den seltensten Fällen schlecht, und die Mitarbeitenden sind in der Regel hoch qualifiziert und motiviert. Im Gegenteil: Die Qualitätssicherung (QS) und das Qualitätsmanagement (QM) sind unermüdlich darin, die Produktqualität sicherzustellen und die Kundenzufriedenheit zu gewährleisten.
Die Prozesse in der QS sind oft schlank, gut digitalisiert und durch Robotic Process Automation (RPA) oder andere effiziente Softwarelösungen unterstützt. Und dort wo das nicht der Fall ist, wird Digitalisierung alleine auch nichts retten. Digitalisierung ist keine Transformation.
In meiner Funktion als Berater und Projektmanager für QS-Prozesse lerne ich fast ausschließlich engagierte und lösungsorientierte Mitarbeitende kennen. Aber seien wir ehrlich: Andere Abteilungen haben oft ein angespanntes Verhältnis zur QS. Begriffe wie „Papiertiger“, „schon wieder ein Validierungslauf in der Produktion“ oder „können die das nicht endlich mal freigeben?“ hallen hinter vorgehaltener Hand oder auch offen durch den Betrieb.
Als letztes würde man die QS als Treiber für agile Projektsteuerung ansehen.
Die QS hält den Laden am Laufen, oder?
Doch wenn das Audit kommt, möchte niemand mit der QS-Abteilung und den Verantwortlichen tauschen. In diesen Momenten wird klar: Die QS hält den Laden am Laufen. Am Ende des Tages heißt es: keine Freigabe, kein Verkauf, kein Geld. Aber die Freigabe ist kein Siegel, dass die QS nach Gutdünken oder Dringlichkeit des Kundenwunsches vergibt.
“Company-wide Commitment to Quality” - Managementverantwortung
Der Begriff "Company-wide Commitment to Quality" wird tatsächlich in den FDA-Richtlinien, insbesondere in der ICH Q10 Guideline, behandelt. In Abschnitt 2.1 der ICH Q10 [1] wird beschrieben, dass Management Commitment unerlässlich ist. Für Medizintechnik gilt entsprechend: siehe 21 CFR 820.200 [2] „Management Responsibility“.
Egal wie motiviert alle im Betrieb sind, ob gute Software für reibungslose Abläufe in allen Bereichen eingesetzt wird oder ob Berater das Unternehmen unterstützen: Ohne die Unterstützung des Managements geht es nicht.
Führung, Support und den Freiraum Dinge auszuprobieren und die Fähigkeiten der Mitarbeitenden zu nutzen machen den Unterschied zwischen einem „epic fail“ und einer Arbeit, die Spaß macht und ein Unternehmen stabil, innovativ und zukunftsfest hält.
Und darauf muss bestanden werden. Führung bedeutet, Unterstützung für das Team zu leisten und die Mission und Vision klar zu vermitteln. Ich habe oft erfahren müssen, dass insbesondere die Vision nicht ausreichend kommuniziert wird – eine Bringschuld des Managements. Aber die Unterstützungsleistung ist hier die noch wichtigere Aufgabe: Es braucht den Freiraum, neue Wege zu gehen, um aus der ewigen Überforderung von „die CAPAs müssen noch gemacht werden“ auszubrechen und Prozesse zu optimieren, die bisher nicht das gewünschte Ergebnis bringen.
Das regelt die QM-Abteilung? Qualität ist Teamarbeit.
Nein. „Company-wide“. Weiter zum nächsten Absatz. Alternativ lesen Sie den Absatz vorher bitte noch einmal.
CAPA ist der zentrale Prozess zur stetigen Verbesserung der Prozesse
What? Das machen doch dieses Lean und SixSigma und kontinuierliche PDCA Zyklen (Plan-Do-Chack-Act)! Oder Prozessberater. Komischerweise finde ich mich als Lean und Six Sigma Master BlackBelt immer wieder auch in QS-Projekten wieder. Hier befähige (und oft begeistere) ich Mitarbeitende mit passenden Methoden Ziele zu erreichen, über die milde gelächelt wurde.
Die ICH Q10 (1.1) setzt den Rahmen: „Implementation of ICH Q10 throughout the product lifecycle should facilitate innovation and continual improvement”
Die 384 offenen CAPAs sind nämlich kein Witzaufhänger für diesen Artikel. Meine Kundin hatte genau dieses Problem.
Der CAPA-Prozess: Strukturiert, systematisch und agil – Geht das?
Die Freiheit der Methoden gibt es. Die ICH Q10 Guideline; Abschnitt 3.2.2 beschreibt den CAPA-Prozess und stellt klar, dass ein strukturiertes Vorgehen erforderlich ist, um die Ursache von Problemen zu ermitteln und geeignete Maßnahmen zur Korrektur und Prävention umzusetzen. Abschnitt 8.5 der DIN EN ISO 13485:2016 [3] fordert ebenfalls einen systematischen Ansatz. Das gleiche gilt für Medizintechnik und die Anforderungen der FDA (21 CFR 820.100; CAPA)
Finden Sie da Methoden? Ob ich nun ein Fischgräten-Diagramm, eine Swimlane-Prozessanalyse, Liberating Structures oder Design Thinking benutze; hier steht nur „strukturiert“ und „systematisch“.
Dann darf ich doch auch dieses hippe agil? Geht das?
Agiles Arbeiten im CAPA-Prozess mit dem SCRUM Framework – so funktioniert es
How to Agiles CAPA-Management: Nun „Butter bei die Fische“ wie man hier im Norden sagt. Schauen wir kurz auf die aktuelle Version des SCRUM Guide (2020):
„SCRUM is a lightweight framework that helps people, teams and organizations generate value through adaptive solutions for complex problems.” [4]
(„SCRUM ist ein leichtgewichtiges Rahmenwerk, das Menschen, Teams und Organisationen hilft, durch adaptive Lösungen für komplexe Probleme Werte zu schaffen.“)
Praktische Umsetzung:
Sprint Planning: Ein CAPA-Backlog wird erstellt, in dem alle offenen CAPAs priorisiert werden. Das Team wählt dann die wichtigsten CAPAs aus, an denen während des nächsten Sprints gearbeitet wird.
Daily SCRUM: Tägliche kurze Meetings (Daily SCRUMs) ermöglichen es dem Team, den Fortschritt zu überwachen und schnell auf Probleme zu reagieren, die während der Bearbeitung der CAPAs auftreten.
Sprint Review: Am Ende jedes Sprints wird überprüft, welche CAPAs erfolgreich abgeschlossen wurden und welche weitere Bearbeitung benötigen.
Sprint Retrospective: Das Team analysiert, was gut funktioniert hat und wo Verbesserungen notwendig sind, um die Effizienz des CAPA-Prozesses weiter zu steigern.
Wie gesagt, ist agiles Arbeiten ein Rahmenwerk. Was passiert innerhalb dieser Sprints? Ich sage bewusst nicht „Sprints“ denn es ist ein echter Sprint nur eben für agiles CAPA-Management. Das Produkt ist die verbesserte Organisation. Eine abgeschlossene CAPA wird durch eine saubere Definition of Done beschrieben. Diese entspricht dem SCRUM Artefakt „Inkrement“. Der Produkt Backlog ist die Gesamtheit aller CAPAs. Der Sprint Backlog, die ausgewählten CAPAs, derer sich im Sprint angenommen wird.
Die bewährten Methoden Ihres Unternehmens sind Teil von agilem CAPA-Management
SCRUM gibt keine spezifischen Methoden für die Durchführung der Arbeit vor. Es ist darauf ausgelegt, dass Teams selbst entscheiden, welche Werkzeuge und Techniken am besten geeignet sind, um ihre Aufgaben zu erfüllen. In diesem Fall wurden in den Sprints die notwendigen Analysemethoden (z.B. Fischgräten-Diagramme) weiter benutzt, um die Ursachen einer Abweichung zu identifizieren und geeignete Maßnahmen zu entwickeln.
Auch die “ICH guideline Q9 (R1) on quality risk management” spricht bei den Methoden die (im Annex I, Sektion 8) von „kann“. Das Thema „Quality Risk Management“ ist zwar nur am Rande des Scopes dieses Artikels. PAs (preventive actions) sollen aber nach Möglichkeiten in ein gutes Risikomanagement münden.
Dokumentation im CAPA-Prozess: Erfüllung regulatorischer Anforderungen mit Agilität
Definition of Done und regulatorische Anforderungen:
Die Definition of Done (DoD) ist in SCRUM ein zentrales Element, das sicherstellt, dass alle Qualitätsanforderungen erfüllt sind, bevor ein Produktinkrement (hier: CAPA) als abgeschlossen gilt. Die DoD ist so zu formulieren, dass sie alle regulatorischen Anforderungen abdeckt, die für die CAPA-Bearbeitung notwendig sind. Das bedeutet, dass eine CAPA nur dann als „done“ betrachtet wird, wenn alle relevanten Dokumentationen vollständig, alle Analysen abgeschlossen und die regulatorischen Anforderungen erfüllt sind. Diese Anpassung der DoD stellt sicher, dass der CAPA-Prozess die strengen Anforderungen der DIN EN ISO 13485, ICH Q10 oder 21 CFR 820.100 einhält.
Nebenbei bemerkt steht auch ein Hinweis auf den Umfang der Dokumentation in der ICH Q10 Guideline, 3.2.2: „The level of effort, formality, and documentation of the investigation should be commensurate with the level of risk, in line with ICH Q9“ [5]
Die Dokumentation soll dem Zweck angemessen sein. Nicht „gimme more paper“ (GMP). Zwinker-Smiley.
In der 21 CFR 820.100 steht zum Thema CAPA-Dokumentation: „b) All activities required under this section, and their results, shall be documented.” Punkt.
Die Umstellung auf einen agilen CAPA-Prozess mag zunächst herausfordernd erscheinen. Doch mit der richtigen Begleitung kann ein System etabliert werden, das nicht nur die Anzahl der offenen CAPAs reduziert, sondern auch deren stetige Bearbeitung sicherstellt. Es geht darum, einen nachhaltigen Prozess zu schaffen, nicht nur kurzfristig Zahlen zu verbessern.
Das hochgesteckte Ziel: „Erstrebenswert aber unrealistisch“
Das Ziel wurde von uns gemeinsam im Rahmen eines Befähigungsworkshops definiert: Ich fragte, was denn eine Zielvorstellung an „laufenden offenen CAPAs“ (Definition der Kennzahl) sei. Nach kurzer Besprechung wurde gesagt, dass 40 als sehr „erstrebenswert aber unrealistisch“ angesehen wurden. Ich sprach Mut zu, in die Meetingkarte (ein von mir entwickeltes Tool, um Besprechungen zielgerichtet durchführen zu können) die Zielzahl „maximal 40 gleichzeitig offene CAPAs“ einzutragen. Nun musste ja noch festgelegt werden, binnen welcher Zeit diese Zahl (mindestens einmal) erreicht werden soll. Zwei Jahre, also 24 Monte wurden als wieder „erstrebenswert aber unrealistisch“ angesehen. Auch hier bat ich mutig in die Meetingkarte die 24 Monate einzutragen.
Durch die Integration von SCRUM in den CAPA-Prozess werden die Vorteile agiler Methoden genutzt, wie erhöhte Transparenz, regelmäßige Überprüfungen und eine kontinuierliche Verbesserung.
Das Team hat mit einer einfachen Meetingkarte für das Sprintplanning, Review und Retro angefangen. Als Berater habe ich bewusst darauf gesetzt, das Konzept agiler Methoden schrittweise einzuführen, um mögliche Bedenken abzubauen. Dadurch konnte ich das Team behutsam an die neuen Methoden heranführen und gleichzeitig ihre Akzeptanz für Veränderungen steigern. Retros wurde erst einmal weggelassen oder im Rahmen des Reviews mit besprochen. Das Team kam von ganz alleine darauf, die Effektivität der CAPA-Projektarbeit separat vom Ergebnis zu evaluieren. Chapeau! Ich war überrascht und erklärte, dass es noch ein Event gäbe, dass genau dies abdeckt: Das Retro. Anfangs war dies nur ein kleiner Kreis von Begeisterteren, der aber schnell Anhänger fand. Hier muss auch nicht jede/r dabei sein.
Durch meine gezielte Beratung und die Einführung agiler Methoden konnten wir die Zahl der offenen CAPAs in nur 24 Wochen von 384 auf 38 reduzieren. Dieser Erfolg zeigt, dass mit der richtigen Begleitung nachhaltige Veränderungen möglich sind.
Die Qualitätssicherung als Treiber für agile Projektsteuerung
Die Methode wurde beibehalten und weiterentwickelt. Natürlich gab es Widerstände und die junge Frau im Unternehmen, die als SCRUM Masterin (ohne, dass sie es wusste) das Projekt auf Kundenseite leitete, hatte einige skeptische Blicke und Kommentare auszuhalten. Aber die Meetingkarte und ihre Begeisterungsfähigkeit sowie Energie haben geholfen. Die Planung, Reviews habe ich mit ihr für anfangs eine Stunde pro Woche angesetzt. Diese Zeit konnte jedes Mitglied des Teams „opfern“.
Da die Meetingkarte eine recht strenge Struktur für Meetings vorgibt, hatte niemand das Gefühl, dass sinnlos Zeit vergeudet wird. Die Meetings wurden später länger auf Wunsch aller Beteiligten, uferten jedoch nicht aus. Die strenge Struktur lässt keinen Raum für Zeitverschwendung und die Zusammensetzung der Teammitglieder stellt sicher, dass alle notwendigen und hinreichenden Rollen vertreten sind. Heute trainieren QS Mitarbeiter andere im Unternehmen im agilen Projektmanagement. Ja, auch die QS kann Nukleationspunkt für agile Innovation sein. Wer hätte das gedacht?
Fazit: Agile Methoden in der QS – Ein Weg zu nachhaltiger Verbesserung und Innovationskraft
Die Qualitätssicherungsabteilung ist das, was man daraus macht. Die Mitarbeiter sind fähig, viele davon auch zu Innovation und neuen Methoden. Das Verwirrspiel, ob CAPAs nun Tagesgeschäft oder Projekte sind, wurde aufgelöst. Je nach Anforderung können im agilen Ansatz auch mehr CAPAs pro Zeiteinheit vorangebracht oder ganz geschlossen werden, beispielsweise vor Audits. Die souveräne Kontrolle darüber ist erreichbar. Aus der ohnehin notwendigen Dokumentation die Grundlage für einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess abzuleiten ist nur logisch.
Die Einführung agiler Methoden in Bereichen, die nicht „klassisch“ dafür ausgelegt scheinen, macht oft Sinn. Die Ausgestaltung erfordert gesunden Verstand, Teamarbeit und den Willen sich manchen Details zu stellen, die anfangs schwierig erscheinen oder tatsächlich sind (beispielsweise die vorhandene Software für den CAPA-Prozess, die fast immer vorgegeben ist).
Die ersten zwei Mitarbeiterinnen halten inzwischen ihre Zertifizierung als SCRUM Masterinnen (PSM I). Die Rückmeldung war, dass die Prüfung für beide recht leicht waren; sie arbeiteten ja bereits agil. Der SCRUM Guide war für sie nur logisch und die Prüfung wurde im ersten Anlauf bestanden. Glückwunsch!
Die Befähigung der Mitarbeitenden, die Unterstützung der Führungsverantwortlichen und der Mut moderne Methoden kreativ anzuwenden sind meiner langjährigen Erfahrung nach der Mix, der Unternehmen herausstellt. Reaktives Handeln blockiert, proaktives Handeln weckt Phantasie. Ein zentraler Bestandteil der Beratung ist die Befähigung der Mitarbeitenden. Durch gezieltes Coaching und praxisnahe Schulungen konnte ich die Teams nicht nur motivieren, sondern sie auch dazu befähigen, eigenständig und effektiv den CAPA-Prozess zu gestalten.
Wenn CAPA-Management sogar Spaß machen kann, dann steckt dies andere mit Enthusiasmus an.
Es entsteht eine Kultur der Selbstständigkeit und kontinuierlichen Verbesserung, die das Unternehmen langfristig stärkt und zukunftsfähig macht.
Befähigen Sie Ihre Mitarbeiter, denn weder stehen die Spezialisten Schlange vor jedem Unternehmen noch bleiben die Besten. Die Besten werden frustriert, wenn Ihr Tun ineffizient ist und wenig Sinn stiftet. Und was tun diese? Sie gehen zu den besten Unternehmen.
*) CAPA: corrective action and preventive action
Quellen:
[2] https://www.ecfr.gov/current/title-21/chapter-I/subchapter-H/part-820
[3] https://www.tuvsud.com/de-de/store/akademie/themenwelt/medizintechnik/iso-13485
[4] https://scrumguides.org/docs/scrumguide/v2020/2020-Scrum-Guide-US.pdf
[5] https://www.ema.europa.eu/en/ich-q9-quality-risk-management-scientific-guideline
Paul Grube
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